Kay V.: Wir sind Deutschland genauso. Man hat unsere Geschichte in den alten Bundesländern überhaupt nicht wahrgenommen. Das war das gute Deutschland, und wir sind das sozialistische, ex-sozialistische Deutschland. Wir haben uns gefälligst dem anzupassen, dem »Kerndeutschland«. Wir sind das schlechte Beispiel, wir aus dem Osten. Die  »Ossis«, höre ich heute noch viel. Und: »Die Westdeutschen haben alles richtig gemacht. Die Ostdeutschen aber, das waren die Kommunisten, die Russen.« und weiß der Geier was. Das ist nie aufgearbeitet worden. Bis heute hörst du das in den Medien. Wenn du so was liest, dann sind das immer »DIE« Ostdeutschen. Es ist immer »Dunkel-Deutschland«. Für viele ist der Osten rechts oder eher radikal, weil: »Die haben ja nicht gewusst, wie gute Demokratie geht. Und die wollten es auch nie lernen.« Gibt ja auch Debatten von Politikern, die sagen: »Die Ostdeutschen verstehen die Demokratie nicht.« Ja, welche? Wozu gibt es denn einen Ostbeauftragten? Kann man machen. Aber dann bitte ich auch um einen Westbeauftragten. Das sind Dinge … Wer entscheidet denn so etwas? Welches Geistes Kindes ist denn so ein Quatsch?


Carl Joseph S.: Die bringen doch die Leute durcheinander. Mit dem Heizungskram war das doch schon. Dann mit den Autos. Dann machen sie dir wie in der DDR Vorschriften, wie du zu leben hast. Das war früher, vor, sagen wir mal zwanzig Jahren, noch anders. Da haben wir uns gar nicht um die Politik gekümmert.

Christina S.: Naja.

Carl Joseph S.: Aber jetzt ist das alles anders. Die wollen die Welt komplett verdrehen.

Christina S.: Wir Ossis kennen ja zwei Gesellschaftsordnungen. Wir können das viel besser beurteilen wie bei den Wessis drüben. Aber die Wessis sind noch so auf dem alten Level. Wir hatten zwei Systeme. Wir können das wirklich beurteilen.

Carl Joseph S.: Die Wessis haben immer ruhig gelebt, immer eigentlich im Wohlstand, sagen wir mal so. Die Politik hat doch die gar nicht interessiert im Westen.


Anonym:  Ich habe im Westen mit Ostfriesen zusammengearbeitet. Die hatten die große Fresse, aber auf unserem Gebiet konnten die gar nix. Ich war beim Ferngasleitungsbau. Wir haben zum Beispiel die Nordstream 1 und 2 auf dem Land gebaut. Die jetzt ja nun sinnlos sind. Die Ostfriesen hatten so was vorher noch nie gemacht. Ich war vorher vier Jahre im Ural gewesen. Zu DDR-Zeiten. Gasleitungsbau. Und die Ostfriesen haben so getan, als wenn sie die größten Experten wären. Und konnten gar nichts. Da konnte man manchmal wütend werden.


Udo G.: Über Politik wird immer geredet. Klar, es wird niemals irgendeine Regierung geben, wo die Leute sagen: »Das ist jetzt das, was wir die nächsten 100 Jahre haben wollen, alles gut.« Ich meine auch, dass Politikverdrossenheit da ist und die Leute manchmal satt sind von Politik, weil du nichts anderes im Fernsehen hörst. Meistens sind die Leute der Meinung: »Die da oben wissen gar nicht mehr, wie’s hier unten aussieht«. Das war zu DDR-Zeiten auch so. Berlin war weit weg, die Politiker wussten auch nicht, was hier ist. Die hatten ihre Feiern mit Westbier und Bananen, die hatten alles. Und hier unten hatte es halt gefehlt. So ähnlich ist es, in meiner Meinung, jetzt auch: Dass die Politiker den Blick zur Basis verlieren. Dann lassen sie sich bei den Hochwasseropfern sehen. Da läuft einer nach dem anderen auf, damit sie im Fernsehen sind und versprechen und versprechen. Aber ich glaube nicht, dass die vom Ahrtal am Ende alle so zufrieden sind und alles so geklappt hat mit der Unterstützung. Am Ende kämpft doch dann jeder wieder für sich.


Caro M.: Ich komme aus Hessen. Was mir so generell in Thüringen auffällt, dass es hier sehr stark mit rechts und links ist. Bei uns, glaube ich, ist es noch so ein bisschen mittiger. Hier gibt es eher zwei extreme Seiten, würde ich sagen, ja.


Lothar:  Als die Wende kam, wurden wir sofort aus dem Betrieb rausgegliedert. Da habe ich mich bei der Kirche beworben. In meinem Meisterzeugnis stand natürlich was mit Politik. Das waren die Schwafelfächer. Dafür brauchte man nichts zu wissen und zu können. Ich hatte darin sehr gute Noten. Der gute Mann mit Vollbart in der Kirche hat zu mir gesagt: »Ich kann Sie nicht einstellen.« Und dann war ich zuhause. Als Frührentner. Gebraucht wurde man ja nicht mehr. Die Knopfindustrie wurde innerhalb von zehn Tagen in Frankenhausen zugemacht. 560 Leute mit einem Schlag in so einer kleinen Stadt arbeitslos. Dann haben wir unser Dasein gefristet als Groß- und Vorrentner. Und als das Werk geschlossen wurde, haben die Leute natürlich alle gehofft. Die kriegten Arbeitslosengeld. Die haben gedacht: »Das wird schon wieder werden.« Viele waren schon Rentner. Die haben sich gefreut, dass sie donnerstags am Gemüsestand vom Türken vollgeschwatzt werden und Sachen kaufen können, die sie vorher nicht einmal den Namen nach gekannt haben. Bei mir auf der Nachbarschaft wohnte eine ältere Dame, die war damals so alt wie ich jetzt bin. Die hatte zu mir gesagt: »Ach, weißte, früher konnte ich meinen Enkel immer mal ein paar Mark zustecken. Heute geht das nicht mehr.« Aber wenn sie vom Markt kam, dann sind ihr bald die Henkel von der Tasche gerissen.


Friederike B.: Ob der Ossi sozusagen per se sensibilisierter ist? Das kann ich nicht beurteilen. Sicherlich, wir sind ja nicht der saturierte Westen, sind es nie geworden. Eine höhere Sensibilität ist schon da, weil hier nicht der schnöde Mammon regiert hat. In den guten Regionen im Westen hast du alles mit Geld reguliert. Da haben die gar nicht die Notwendigkeit zu gucken, woran was liegt. Aber der Ossi per se ist viel filigraner und zerbrochener. Wir kennen die Brüche. Ob der Ossi ein feineres Gespür dafür hat? Das ist eine schwierige Frage. Jein. Das ist auch eine Frage von Bildung und von Interessen. Womit beschäftigst du dich? Es gibt halt solche und solche hüben wie drüben und überall in der Welt: Menschen, die offen sind und sich interessieren. Und Menschen, die es eben nicht sind. Die gibt es hier wie da. Von daher weiß ich nicht, ob man das mit Ost-West noch so klar machen kann.


Anonym: Die Leute müssten mehr miteinander reden und aufeinander zugehen. Das ist meine Meinung. Dieser Egoismus und dieser Gedanke: »Ich muss mehr haben als der andere«, das ist eigentlich der Krebsschaden. Es geht nur noch ums Geld. Gewinnsucht in jedem Betrieb. Isso. Sie produzieren und produzieren und dann geht es nur darum: »Was fällt für mich dabei ab? Alles andere ist mir egal.« Das ist keine Einstellung! So ist es nicht gut! Ich meine, früher in der DDR … war auch Scheiße. Aber da waren wir sicher. Ich habe meinen Mund damals gehalten und habe mein Leben gelebt. Und ich hab gut gelebt. Ich wollte nur meine Ruhe haben. Ich war eigentlich abgesichert. Ob das Krankenkasse war, oder was weiß ich, Rentenkasse. Aber heute weiß ich halt nicht, was noch auf mich zukommt.


Dörte R.: Ich bin nach der Wende aus dem Saarland nach Thüringen gezogen. In Bezug auf Wut habe ich nicht das Gefühl, dass sich irgendwie anders darstellt zwischen Ost und West. Aber ich glaube schon, dass im Moment die Gräben nochmal tiefer werden, wenn man die Landkarte mit diesen Wahlprognosen sieht. Und der Westen, dessen Perspektive, die ich ja auch durchaus nachvollziehen kann, versteht die Welt nicht mehr: »Was bilden die sich ein? Eigentlich sollen die doch dankbar sein. Denen geht es so gut. Und es wird immer besser. Und jetzt fangen die an, diese Nazis da zu wählen.« Ja. Das versteht keiner. Ich sehe das ein bisschen anders. Ich bin seit der Wende hier und ich habe viel erlebt, was mit den Menschen gemacht worden ist. Diese Schlipsträger mit den dicken Autos, die die Leute über den Tisch gezogen haben, die ihnen gesagt haben: »Das, was Ihr hier gemacht habt, ist nichts wert.«

Das macht was mit einem Menschen. Man hat sich hier viel über die Arbeit identifiziert. Das ist plötzlich weggebrochen. Und dann hat man mit den Menschen gemacht, was man wollte. Standen ja so viele andere vor der Tür, die nur darauf gewartet haben. Da empfinde ich es als verständlich, dass die Leute irgendwie reagieren. Ich glaube zum Beispiel, dass der Osten in diesen Zeiten viel bessere Chancen hat, durch diese Krise zu kommen, weil die Leute hier flexibler sind. Das ist wieder das: »Ich habe etwas erlebt und bin mehr gewappnet als jemand, der jetzt erst aus seiner Komfortzone raus muss.« Und dass wir aus der Komfortzone raus müssen, ist für mich unbestritten.


Karin A.:  In der DDR gab es einen Hang dazu, alles zu beschönigen. Alles war ja großartig. »Große Schlachten der Erntekapitäne« usw. Alles war wunderbar. Das war alles überzogen. Ich bin ja auch eher für das Positive. Aber heute ist es genau die andere Seite. Es wird sehr viel Fokus auf das Negative gerichtet. Ich glaube, viele Leute möchten sich selber ein Bild machen und manche sagen: „unkommentiert lesen“. Da wünsche ich mir auch in der Branche etwas mehr Ausgewogenheit. Ich bin mir aber im Klaren, dass das auch sehr schwierig ist für die Medien. Also keine allgemeine Schelte. Weil sich natürlich in den sozialen Medien ganz anderes abspielt und sie natürlich auch Leser haben möchten. Ich bin mir aber im Klaren, dass das auch sehr schwierig für die Medien ist. Keine allgemeine Schelte. Ist ja auch ein Geschäft irgendwo.

Bernhard A.: Mich stört ein bisschen, dass die Presse versucht, Politik zu machen. Zu stark kommentiert und zu wenig informiert, ohne gleich eine eigene Position anzubieten. Das ist sicher eine Polarisierung, die viele stört, die sich selber die Meinung bilden wollen.


Markus F.: Du meinst, ob die Ostdeutschen emotional anders gestrickt sind, als die Westdeutschen? Hmm? Eigentlich nicht. Ich bekomme ja aus einer westlichen Arbeiterfamilie, ich habe in einer Westplatte gewohnt. Dort war es sehr ähnlich wie das, was ich hier erlebe. Diese Sprüche aus dem zweiten Weltkrieg, diese Verletzung, diese emotionale Unreife und so, das habe ich hier wieder in etwas schwächerer Form auch erlebt. Ich finde, dass sich West- und Ostdeutsche da sehr ähnlich sind. Ich sehe diesen Unterschied nicht so. Diese Kränkung ist halt da. Was ich oft höre, auch von meiner Schwiegermutter: »Dir haben sie auch nicht die Heimat weggenommen. Dir haben sie ja auch nicht die Identität weggenommen. Dir haben sie nicht die Füße unter dem Arsch weggezogen.« Und das stimmt.

Mit meinen Eltern hatte ich in einem Sechsgeschosser gewohnt. Als wir eingezogen sind, waren das alles deutsche Familien. Und nach 15 Jahren dann 80% türkische Familien und noch zwei deutsche. Meine Eltern waren Willy-Brandt-SPD, so Gewerkschaftslinke. Aber die haben genauso reagiert, wie jetzt der Mainstream auf »die Asylbewerber« reagiert. Die gleichen Sprüche, die gleiche Emotionen, die gleiche Angst, dieses »Die nehmen uns was weg.« Damals war das halt sanktioniert. Man tat das eigentlich nicht.

Heute ist das weg. Ich finde, das ist inzwischen sehr, sehr Mainstream geworden. … Früher im Westen war das so ein bisschen verstohlen. Die Rechten, die haben sich erkannt gegenseitig. Aber am Tisch nicht groß geäußert. Jetzt krieg ich das ständig vor dem Bug geknallt. Ich habe mal irgendwas zu unserem Hausmeister gesagt, völlig harmlos. Da hatte es lange Zeit nicht geregnet. Da habe ich das Wort »Klimawandel« genommen. Der ist völlig ausgerastet. »Da könn’ wir doch nichts dafür … Die Chinesen!«. Mit einem Selbstbewusstsein hat er mir erklärt, wie es läuft. Das wäre vor zwanzig Jahren gesellschaftlich nicht akzeptiert gewesen. Der hat sehr viel mehr Selbstbewusstsein. Zum Beispiel alle unsere Hausmeister sind so. Aber je einfacher die Funktion ist, umso mehr – jetzt sind wir wieder in der Tagespolitik – ist es AfD. Und es geht durch die Bank. Es geht wirklich durch die Bank. Ich wüsste da keinen … Selbst die im Büro kommen mit diesen Sprüchen. Die wählen vielleicht die Wagenknecht. Aber im Grunde genommen ist es AfD. Das hat noch so ein bisschen Schmuddelkind. Aber das wird bald weg sein, denke ich, falls sie nicht noch größer Sauereien irgendwie sich einfahren lassen. Das ist hier sicher anders. Aber das kommt im Westen auch an, glaube ich. Die AfD macht da auch deutliche Sprünge. In Gelsenkirchen waren sie auch die Nummer zwei. Letztens war da so ein Artikel darüber. Und das erinnert mich schon sehr an den Osten. »Wir sind einfach, wir haben mit diesem korrupten Politiker Künstler Zeug nix zu tun.« Und hinter dieser ganzen »Ach, wir erinnern uns an diese schöne DDR-Kindheit«, da steckt unheimlich viel Aggressivität auf die Moderne dahinter.


Kay V.:  Es gibt durchaus Personen in den oberen Etagen, wie Geschäftsführer, die das raushängen lassen, dieses: »Wir Westdeutschen, Ihr Ostdeutsche«. In den unteren Ebenen ist das eher nicht so. Dort reduziert sich das auf die Sachebene. Da hast du nix mit Ost und West oder mit Nord und Süd, oder weiß der Geier. Es wird auch gesagt: »Die Ossis hätten dankbar zu sein!« Aber wir haben alle dafür gearbeitet. Jeder. Ich muss niemanden dankbar sein. Außer mir selber vielleicht. Es hat niemand irgendwas hergegeben. Es gab mal vor ein paar Jahren im Mainstream etwas wie: »Es ist Zeit, den Westdeutschen mal zu danken.« Ja, merken die noch was? Welches Fernsehen gibt sich für sowas her? Alleine schon die Fragestellung empfinde ich als Frechheit. Wie kann man denn so eine Frage stellen?


Friederike B.: Parteienpolitik ist überfällig. Ich denk mir: »Warum klappern die noch so viel rum?« Warum werden nicht Bürgerräte gegründet oder so? Du wählst ja manchmal lokal irgendjemanden, weil du die Person gut findest und es ist eigentlich scheißegal, in welcher Partei der ist. Du wählst den, weil du weißt: Der ist menschlich integer. Der weiß fachlich am besten Bescheid. Der hat’s in der Hand. Und dann ist er dummerweise in der falschen Partei. Aber am Ende entscheidet die Kompetenz und nicht mehr das Parteibuch. Das ist für mich ostdeutsch.


Udo G.: Zu DDR-Zeiten war es natürlich gefährlich, über Politik zu sprechen. Aber in der Kneipe ging es schon immer um Politik. Da musstest du halt vorsichtig sein. Das war auch das Spannende daran. Wir gehen jedes Jahr ins Martinsfeld zur Männerwallfahrt. Da kommen zu Spitzenzeiten 12.000 Männer zusammen. Die Predigten heute sind harmloser, auch stellenweise langweiliger gegenüber den Predigten zu DDR-Zeiten. Damals hatte die Kirche noch ein bisschen was sagen und konnte ein paar versteckte Spitzen mitgeben. Da haben die Männer drauf gewartet. Dann wurde schön applaudiert. Obwohl man wusste, dass die Stasi da war. Aber was wollten die? Die konnten ja nichts machen. Das war auch das Schöne daran, zu DDR-Zeiten über Politik sprechen zu können und so ein paar Spitzen zu verteilen. Am Ende konntest du aber nichts ändern.


Lothar: Wir sind alle in Schwimmbad aufgewachsen. Die meisten konnten in der ersten Klasse schon schwimmen. Die Sole hat ja getragen. Das hat das Schwimmen erleichtert. Das war damals so: »Wo bist du nachher?« »Im Bad.« »Na, wir treffen uns.« Heute ist das nur noch stundenweise, weil kein Bademeister da ist.


Christina S.: Also ich bin für die Wagenknecht. Dass das BSW hochkommt.

Carl Joseph S. : Nur ich hab Angst, dass die mir wieder die DDR ranschafft.

Christina S.: Ach wo, Sozialismus will keiner.

Carl Joseph S. : Ja, das sagst du jetzt.

Christina S.: Nein. Kommunismus gibt es nicht, weil der Mensch ein Egoist ist. Das habe ich in der Umschulung für Soziales gelernt. Nach der Wiedervereinigung bin ich in eine soziale Einrichtung. Da hatte man eine Fortbildung mit Zertifikaten. Wir hatten ja Sozialkunde nicht zu DDR-Zeiten. Deswegen… Die Sarah Wagenknecht ist mir unheimlich sympathisch. Die Ansichten sind in Ordnung, würde ich immer verteidigen.

Carl Joseph S. : Ja, isse ja.

Christina S.: Ehrlich ist sie! Und die muss hochkommen.


Dörte R.: Mein Freundeskreis im Westen ist so dieser städtische Bereich. Die fragen sich: »Warum wählen die Ossis so schwarz? Oder braun?« Braun! Ja. Und jetzt kommt Sarah Wagenknecht, die ja auch mit dem Saarland verbandelt ist und erscheint als Heilsbringerin. Sie macht das sehr gut und wird wahrscheinlich das Zünglein an der Waage werden. Mir gefällt ihr Programm nicht. Ich kann das auch nicht richtig einordnen. Eigentlich ist sie Kommunistin. Und jetzt fängt sie plötzlich an, der Wirtschaft zu huldigen und so. Für mich sehr, sehr fragwürdig.


Anonym: Ich weiß nicht, ob unsere Politiker damals keine Chance hatten oder ob sie einfach nur »Ja« gesagt haben. Die Bürgerrechtler selber, die waren ja dann komplett weg. Erst waren sie gut und haben dafür gesorgt, dass endlich mal was passiert. Und dann waren die weg. Und wir haben uns komplett angepasst. Das ist nicht in Ordnung. Wir haben uns verkauft. Nein, verschenkt haben wir uns, nicht verkauft.


Kay V.: Wenn man hier lokal bleibt, hat man ja andere Ansichten, als wenn man permanent durch die Gegend fährt und andere Leute trifft und kennenlernt, sich dafür interessiert. Ich denke, die Alten haben resigniert. Die sagen, das wird sowieso nix mehr. Mich hat es nach der Wende direkt enttäuscht. Ich bin ja schon immer Pendler gewesen, habe meinen Arbeitsplatz in Speyer gehabt, bin montagemäßig aber hier im Osten unterwegs gewesen und dann habe ich festgestellt, dass sich viele ein Urteil erlauben oder ein Urteil abgeben, ohne es jemals gesehen zu haben. Einfach nur vom Hörensagen aus zweiter, dritter Hand. Es hat sich niemand mit der Geschichte der DDR, also nach dem Krieg, nach dem geteilten Deutschland in diese vier Teile, mit dieser sowjetischen Besatzungszone beschäftigt. Das war dann halt der Russe und das war schlecht und fertig. Aber dass wir auch quasi die Improvisation gelernt haben, das Leben damit, das war komplett anders. Die West-Alliierten haben viel mehr Wohlstand zugelassen, es war halt das kapitalistische System, was dort gelaufen ist. Ob das gut oder schlecht war, kann sich jeder selber aussuchen. Und hier war es eher so, man hat ja nichts bekommen. Es war ein Tauschgeschäft, damit man seine Häuser gebaut hat, man hat mit wenig doch viel gehabt. Und je älter man wird, umso mehr merkt man, dass es nur Dinge sind und dass es nicht das Leben ist.

Yvonne: Glaubst du, dass jetzt, nachdem viele Leute diese wichtigsten Konsumtionswünsche  befriedigt haben, dass man jetzt wieder nach einem Sinn im Leben sucht und dass deswegen hier auch so eine Stimmung ist, dass die Leute irgendwie auch Wut empfinden?

Kay V.: Ja, die, die diesen Punkt erreicht haben, die denken drüber nach, die haben ja auch die Zeit. Und das sind lustigerweise in den alten Bundesländern häufig die, die dann die Grünen wählen, die sagen: „Okay, jetzt habe ich alles, ich habe einen Tesla und ich habe noch ein anderes Auto, wenn mal kein Strom da ist. Ich habe eine Yacht am Rhein oder am Bodensee liegen. Jetzt ist alles gut und jetzt will ich wieder Sinn haben im Leben. Und die tun sich dann, meine Meinung, wieder ein gutes Gewissen erkaufen, indem sie die Grünen wählen. Jetzt machen wir mal was für … Für mich ist es falsch. Es ist eine Partei, ganz einfach, die auch verschiedene Interessen in sich trägt. Die haben ja nicht nur Interessen für Umwelt, wobei das auch in Frage steht mittlerweile, glaube ich, das wissen die meisten. Aber was den Sinn angeht: Klar, wenn man einen gewissen Punkt im Leben erreicht hat, ein gewisses Alter, man hat eine Familie, Kinder und so was, dann hat man dieses Streben nicht mehr. Dann merkt man, es gibt ein Ende. Es ist endlich alles. Und das ist bei dem einen schon mit 50, bei dem anderen vielleicht mit 60. Und dann dreht es sich. Man geht ja mehrere Phasen im Leben durch. Es ist die Phase jung und ungestüm, dann kommt die Familienphase, zumindest war das so in meinem konservativen Bild, und wenn dann die Familie so halbwegs gefestigt ist, dann wendet man sich anderen Dingen zu. Der Mensch ändert sich in seiner Entwicklung mehrfach. Kann sein, dass eine Grundhaltung bleibt, aber es gibt nichts in Stein gemeißeltes, zumindest sollte das nicht in Stein gemeißelt sein. Wendepunkte gibt es überall.


Anonym:  Die Leute müssten mehr miteinander reden und aufeinander zugehen. Das ist meine Meinung. Dieser Egoismus und dieser Gedanke: „Ich muss mehr haben als der andere“, das ist eigentlich der Krebsschaden. Es geht nur noch ums Geld. Gewinnsucht. In jedem Betrieb isses so. Sie produzieren und produzieren und dann geht es nur darum: „Was fällt für mich dabei ab. Alles andere ist mir egal.“ Und das ist keine Einstellung! So ist es nicht gut! Ich meine früher in der DDR, da haben wir … war auch Scheiße. Aber da waren wir sicher. Ich habe meinen Mund damals gehalten und habe mein Leben gelebt. Und ich hab gut gelebt. Ich wollte nur meine Ruhe haben. Ich war eigentlich abgesichert. Ob das Krankenkasse war, oder was weiß ich, Rentenkasse. Aber heute weeß ich halt nicht, was noch auf mich zukommt. Und ich freue mich immer, wenn ich höre, dass es hier im Osten Betriebe gibt, die sich gerettet haben über diese ganze Wendezeit und die Produktion, die sie in der DDR schon gemacht haben, weiterführen können und die Kraft haben, sich gegen den ganzen Mist vom Westen zu wehren. Das finde ich total klasse und bewundernswert. Aber die meisten sind ja niedergetreten worden und ausgeplündert worden. Die Betriebe hier in Pößneck und in der Maxhütte, die großen, die jetzt hier in der Umgebung waren, das war ja extrem.


Anonym: Ich bin nach der Wende in den Osten und habe eine ehemalige Poliklinik übernommen. Das war sehr spannend. Bis 1995 hat sich im Grunde nichts getan. Die Uhr wurde wieder zurückgedreht und dann ging das langsam vorwärts. Hier in der Stadt hat sich sehr viel getan. Ich glaube, in den letzten 20, 25 Jahren sind 135 bis 150 Mio. in die Infrastruktur reingesteckt worden. Alles, was Rang und Namen hatte, vom Ministerpräsidenten und so weiter, tauchte hier auf. Bad Frankenhausen ist Kurstadt. Deshalb war schon immer Tourismus hier gewesen. Die waren schon immer ein bisschen »abgehoben«, weil die jeden Tag Tausend Kurgäste hatten. Die hatten Kindersanatorium und viele andere Sachen. Fühlten sich alle wohl. In Artern, »Stadt der Träume«, kennen Sie vielleicht, hatte ich mal meine Praxis. Da geht gar nichts. Da ist vieles stehengeblieben.


Anonym: Ich bin ein Typ, der sagt, man muss für sein Leben selber was tun. Und nicht immer nur auf Andere gucken: »Was hat der, was hat der und ich hab das nicht. Und jetzt bin ich aber wütend, weil ich das nicht habe.« Das geht nicht! Das geht in dieser Gesellschaft nicht. Das war früher mal so. Aber jetzt ist es ja so: Du musst im Prinzip eigene Initiativen ergreifen, dass es dir gut geht. Und wenn du das gemacht hast, hast du gar nicht so viel Zeit, dich mit allen Sachen auseinanderzusetzen, um wütend zu sein. Weil: Du musst deine Sache aufbauen.


Lothar: Nach der Wende war alles neu, ging ja auch nicht anders. Die Leute sind überrollt worden. Jeder hat gedacht: »Ein, zwei Jahre bleibst daheim, Arbeitslosengeld auch nicht das Schlechteste.« 90/91 hat die Knopffabrik zugemacht. Mitte 93 haben die Leute es gemerkt. Da hat sich vieles verschlechtert. Gut, die Leute konnten verreisen. Aber ob sie noch das Geld dazu hatten? Viele hatten ein bisschen Ersparnisse, für was sollten sie zu DDR-Zeiten auch das Geld ausgeben? Aber wo dann die Realitäten immer krasser wurden, da hat sich die Stimmung geändert. Auch zu DDR-Zeiten war in Bad Frankenhausen keine besonders gute Stimmung. Gucken Sie mal da oben, das war doch dieses Gemälde. Der Tübke hat das hier gemalt und hat hier gewohnt. Und da hat er da oben ein Haus gebaut. Ob er es selber bezahlt hat oder ob das bezahlt wurde, und ich weiß das nicht. Und da hat er sich gefürchtet, weil das zu weit am Wald stand und zu einsam war. Und wir hatten in Frankenhausen damals bei rund 9000 Einwohnern, so 390, 400 Wohnungssuchende. Und da haben sie von den Neubauwohnungen hinten am Deich aus zwei Wohnungen eine gemacht, für den Herrn Tübke. Da kannst du dir vorstellen, wie die Stimmung war.