Orte der Wut

Weimar, 13. April 2024

Der erste Wurf. Der Auftakt soll in Weimar stattfinden, dort, wo wir leben. Für den Anfang gehen wir nicht raus auf Plätze, um den Zufall entscheiden zu lassen, mit wem wir reden werden. Wir laden Bekannte und Freunde ein, um über Wut zu sprechen.

Das soll uns helfen, das, was wir bisher nur in Gedanken gebaut haben, in der Wirklichkeit zu bestaunen. Wie sind die Abläufe? Was für Gegenstände benötigen wir? Was könnten wir übersehen haben? Eine Art praktischer Test, von dem wir für die zukünftigen Würde lernen wollen.

Zudem ist die Wiese, auf der wir ab zehn Uhr an einem Sonntag sitzen, ein geschützter Raum. Die Menschen, die wir treffen werden, sind uns grundsätzlich wohlgesonnen. Wir müssen keine Übergriffigkeiten, keine Eskalationen befürchten. Wir stellen uns gesittete Gespräche über Wut vor, Feldforschung in vertrautem Terrain.

Nun ist das vielleicht simuliert, feige, könnte man sagen. Man könnte auch sagen: Es ist der schwerste Anfang von allen. Was, wenn wir von Vertrauten Gedanken erfahren, von denen wir besser nicht gehört hätten? Wollen wir wirklich wissen, was die Menschen, die sich in unserem näheren Umfeld bewegen, im Inneren umtreibt, womöglich von Abgründen hören, Positionen, die unvereinbar sind mit unseren Überzeugungen? Was, wenn das Reden über die Wut eine Bruchlinie bewirkt, die es uns zukünftig unmöglich macht, miteinander umzugehen? Ist es nicht viel leichter, Abgründe von Fremden zu erfahren?

Wir bauen auf, richten ein: einen Tisch, eine Bank, vier Stühle, einen Teppich, den Blumenwerfer (noch haben wir kein Wort für die Installation, die uns ein Tischler aus Weimar gezimmert hat), einen von Yvonne gepflückten Feldblumenstrauß, einen künstlichen Blumenstrauß, Wasserflaschen, Gläser, Tabellen zum Eintragen der Werfenden, Notizblöcke, ein Audioaufnahmegerät, Mikrofon.

In der Summe sind das erstaunliche viele Gegenstände, deren Verwahrung, Funktionieren und Einbinden in etwas eigentlich so einfachem wie Reden wir irgendwie organisieren müssen.

Wir lassen uns auf einer Wiese in Weimar Nord nieder. Stadteinwärts ein Wohngebiet, die Straße darüber ein Gewerbegebiet, dazwischen Gras. Ein Fußballplatz war das einst, nebenan eine Turnhalle, dahinter alte Schule, die heute als Asylheim genutzt wird. Es ist Mitte April, hat über zwanzig Grad, blauer Himmel, die Sonne wird den ganzen Tag über brennen und den, der sich nicht eingecremt hat, die oberste Hautschicht wegsengen.

Was hier anrichten, sieht nicht nach Wut aus. Das Arrangement ist eine Idylle. Ein Sonntagspicknick im Grünen, die Blumen, das entspannte Sitzen, Wasser trinken, plaudern. Es ist eine seltsame Ambivalenz, vielleicht ein notwendiger Widerspruch: Würde es regnen, würde ein scharfer Wind gehen, wäre es dunkel und grau, wie wäre sie dann, die Wut in Worten?

Yvonne hat den Angefragten Timeslots zugewiesen. Eine halbe Stunde pro Person haben wir vorgesehen. Die ersten – wie nennen wir sie eigentlich, die, die am Werfen teilnehmen, Partizipanten, Teilhaber, Gäste, Beteiligten, Wutwerfemde? – kommen zu zweit zu uns. Und brechen gleich dreifach unsere vorher aufgestellten Regeln. Sie bringen eigene Blumensträuße mit. Sie schreiben nicht an die Tafel, was sie wütend macht, sondern das, was sie für sinnvoll halten. Und sie werfen keine Blumen, sie legen sie nieder.

Das ist okay. Wir wollen einen Rahmen setzen und was darin geschieht, soll frei sein. Das ist die Regel. Wie weit dieser Rahmen reicht, das wird nun auf die Probe gestellt. Denn es fühlt sich auch seltsam an, gleich mit dem Beginn das eigentliche Ziel unterlaufen zu sehen. Was, wenn niemand Wut empfindet? Oder bereit ist, sich darauf einzulassen?

Wir sitzen und reden und während wir reden, erscheinen die nächsten. Die Timeslots verhaken sich und wir stellen schnell fest, dass die vorgesehene halbe Stunde kaum ausreicht zum Sprechen. Wir stellen auch fest, dass das Sprechen den Großteil der Aktion einnimmt, dass das Werfen eher ein Gimmick ist als Zentrum.

Erstaunt sind wir, dass an diesem ersten Tag kaum ein Aspekt doppelt besprochen wird. Jedes Gespräch ist ein neuer Blick, eine neue Kreideschrift sowieso, aber auch die Pfade, die wir von diesem einen Wort Wut einschlagen, sind verschiedene.

Später ein Ineinandergreifen von Wut und Lösung. Eine Teilnehmende zählt auf, was sie wütend macht. Es sind regionale Beobachtungen: Totholz, die trockenen Äste an Bäumen, die brechen und auf Passanten fallen könnten, Behörden, die sich nicht darum kümmern. Noch während wir im Gespräch sind, erscheint schon der nächste Teilnehmer. Er ist Ortsteilbürgermeister. Er hört von ihrer Wut, lässt sich die Orte mit dem Totholz beschreiben, nennt Gründe, weshalb Behörden nicht reagieren könnten, schlägt vor, was zu tun sei. Der Hilflosigkeit, mit der Wut einhergeht, wird Hilfe geboten. Man kann das Objekt seiner Wut konstruktiv ändern. Wachsen wird die Wut, wenn es dennoch keine Abhilfe gibt. Wenn einer der Äste brechen sollte, trotz der Hinweise, trotz des Sprechens darüber.

Gegen sechs am Abend wird das Licht mild. Wir ahnen, dass auf den Grills im Wohngebiet nun das erste Fleisch liegt. 16 Personen waren hier, 16 Gespräche, 12 Mal die Wut mit Kreide, 10 Blumenwürfe. Hunderte Fotos, tausende Worte. Material, viel zu viel Material, um schon ein erstes Fazit ziehen zu können. Vielleicht Erleichterung darüber, dass es keine Eskalation gab, keine Abgründe. Oder Enttäuschung deshalb? Jedenfalls Erschöpfung. Vieles schwirrt uns im Kopf, die Gespräche fließen ineinander. Wir halten uns an einzelnen Schlagwörtern fest; Hilflosigkeit, konstruktiv, ungerecht.

Den Tisch, die Tafel, die Bank, wir räumen das Arrangement zurück. Die ersten Blumen sind geworfen, wir fühlen uns, trotz all der Fragen, die neu hinzugekommen sind, bereit, die Wiese zu verlassen, hinauszufahren in die Wut.


Weimar, 5. Mai 2024